B. Schröder u.a. (Hrsg.): Religion im öffentlichen Raum

Cover
Titel
Religion im öffentlichen Raum / La Religion dans l’espace public. Deutsche und französische Perspektiven / perspectives allemandes et françaises


Herausgeber
Schröder, Bernd; Kraus, Wolfgang
Reihe
Frankreich-Forum. Jahrbuch des Frankreichzentrums der Universität des Saarlandes 8
Erschienen
Bielefeld 2009: Transcript – Verlag für Kommunikation, Kultur und soziale Praxis
Anzahl Seiten
473 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Franziska Metzger, Seminar für Zeitgeschichte

In einer mehrfach innovativen Weise beschäftigt sich das Jahrbuch 2008 des Frankreichzentrums der Universität des Saarlandes mit dem Thema Religion im öffentlichen Raum: Der Band ist vergleichend, transnational, interdisziplinär und interreligiös angelegt. Mit einer Ausnahme – dem Islam in Deutschland – verfolgt er stringent eine vergleichende und zugleich komplexere transnationale Perspektive auf die Präsenz, Formen der Äusserung, Semantiken und Strukturen von Religion in der Öffentlichkeit in Deutschland und Frankreich in den letzten Jahrzehnten und mit starkem Bezug auf die Gegenwart. In interdisziplinärer und interreligiöser Weise vereint das Jahrbuch Überblicksdarstellungen und empirische Beiträge von Religionssoziologen, Juristen, Theologen, Historikern und Literaturwissenschaftern geschickt entlang von drei Sichtachsen. Erschliesst sich dem Leser der vergleichende Bezug – zwischen den beiden Ländern wie zwischen den Religionsgemeinschaften und deren Verhältnis – direkt oder indirekt durchgehend, so verfolgen die Beiträge im dritten Teil in transnationaler Perspektive die Analyse grenzüberschreitender Kooperation zwischen den Religionsgemeinschaften wie auch zwischen den sich mit Religion befassenden Wissenschaftsgemeinschaften in Deutschland und Frankreich. Dem Band liegt ein konstruktivistischer, kommunikations- und zugleich institutionstheoretischer Öffentlichkeitsbegriff zu Grunde, welcher – so die Herausgeber Bernd Schröder und Wolfgang Kraus – mit einem substantiellen und funktionalen Religionsbegriff verbunden wird. Mit einem substantiellen Religionsbegriff insofern als die historisch und empirisch am stärksten präsenten Religionen in beiden Ländern Gegenstand der Untersuchung sind, mit einem funktionalen über den Blick auf Selbstbeschreibungen und Praktiken, welche durch die jeweils Handelnden – auf der interpretierenden und agierenden Ebene – als «religiös» wahrgenommen und bezeichnet werden. Die konstruktivistischen Konzepte von Religion und Öffentlichkeit ermöglichen, dass beide Konzepte zusammen gedacht und darüber hinaus empirisch produktiv verwendet werden können. Dabei wäre eine etwas stärkere, nicht nur punktuell in empirischen Daten präsente Einbeziehung einer historischen Tiefenperspektive gewinnbringend gewesen, da gerade in Bezug auf das Verhältnis von Religion und Öffentlichkeit eine Langzeitperspektive auf die letzten beiden Jahrhunderte, die auf Kontinuitäten und Transformationen – gerade auch qualitative – achten würde, weniger in die Falle der Deutung von Wandel als grundlegende Brüche und von Säkularisierungsnarrativen gerät. Eine bewusst historische Perspektive verfolgen die beiden französischen Beiträge zur katholischen und protestantischen Kirche in Frankreich von Emile Poulat und Elisabeth Parmentier sowie die beiden Beiträge zum Judentum von Johannes Heil und Patrick Cabanel und derjenige zum Islam in Frankreich von Nikola Tietze.

Die drei von den Herausgebern festgelegten Sichtachsen auf Zonen der Interferenz von Religion und Öffentlichkeit in Bezug auf die gesellschaftlichen, rechtlichen, pädagogischen, ethischen und kulturellen (im Engeren Sinn des Begriffs auf die Literatur bezogen) Felder; auf die Religionsgemeinschaften, auf deren innere Organisation und öffentliche Wahrnehmung; sowie auf transnationale Verschränkungen leuchten vor dem Hintergrund des gewählten Ansatzes und Konzeptes der Publikation ein. Im Folgenden sollen einzelne Beiträge herausgegriffen werden, welche von der Themenstellung und den Ansätzen her für Religionshistoriker besonders anschlussfähig und diskussionswürdig erscheinen.

Die beiden einführenden Beiträge zu Religion und Öffentlichkeit in Deutschland und Frankreich – bzw. spezifisch zum Elsass – gehen über die viel gebrauchten Konzepte der Pluralisierung und Individualisierung in der Beschreibung von Religion in den letzten fünfzig Jahren hinaus, schaffen es in ihrer Knappheit jedoch nicht, das in ihren jeweiligen Deutungsvorschlägen liegende Potential voll auszuschöpfen. Karl Gabriel blickt zunächst auf die inter-organisatorische (bezogen auf die religiöse und konfessionelle Heterogenität) und intra-organisatorische (innerhalb der einzelnen Religionsgemeinschaften festzustellende) Pluralisierung, um danach als eine der zentralen Reaktionen der Kirchen deren verstärkte Präsenz im öffentlichen Raum zu konstatieren. Dabei hebt er ihre Präsenz in ethischen Fragen, so besonders in Bezug auf die biowissenschaftliche Forschung und Gentechnik hervor. Die Kirchen seien, so Gabriel, «näher an die Zivilgesellschaft herangerückt» (29), eine These, die er andeutungsweise, jedoch nicht weiter ausformuliert, als Verschränkung von zivilreligiösen Bedürfnissen und zivilgesellschaftlich-politischer Präsenz von Religion darstellt. Im ähnlich zu Gabriels strukturierten Beitrag Jean-Pierre Bastians zum Elsass sind die drei Perspektiven von Religion als Erinnerung, als Individualisierung des Glaubens und als Vergemeinschaftung interessant. Besonders das Konzept der religiösen Vergemeinschaftung wäre für die religiös-kulturell und sozial hybriden Räume der heutigen Gesellschaft weiterzuverfolgen.

Im zweiten Teil des Bandes analysiert Michael N. Ebertz differenziert die Binnenstrukturen der religiösen Semantiken und Selbstverständnisse im deutschen Katholizismus, so etwa Spiritualitätsmuster und eschatologische Ausrichtung. Er beschreibt die Transformationsprozesse als ein Schrumpfen und einen Transfer von der Ritual- und Überzeugungsgemeinschaft, von der Heils- und Gnadenanstalt hin zu einer Dienstleistungsorganisation, die sich individuellen Bedürfnissen fügen muss und situativ in Anspruch genommenen werden kann, was er anhand verschiedener statistischer Daten aufzeigt. Dieser Befund ist anschlussfähig zu jenem der Kirche als zunehmend zivilgesellschaftlichem Akteur in der Öffentlichkeit. Die Wechselwirkung von Aussen- und Innenperspektive, Fremd- und Selbstbeschreibung steht im Zentrum des Beitrages von Johannes Heil zur jüdischen Minderheit in der BRD und der DDR seit 1945. Er kommt zum Schluss, dass beide Systeme «den Juden eine Rolle in Hinsicht der umgebenden Gesellschaft angetragen» hätten, was in beiden Systemen gegen aussen die Distanz zum Nationalsozialismus demonstrieren sollte und mit einer Tabuisierung des Antisemitismus verbunden war (281–282). Eine ähnliche Perspektive in Bezug auf das Verhältnis von Religion und Öffentlichkeit verfolgt Nikola Tietze in ihrem Beitrag zu den islamischen Organisationsstrukturen in Frankreich und dem Verhältnis zwischen französischem Staat und Muslimen während drei Phasen seit 1950, welche sie nach einer generationenbezogenen Differenzierung definiert. In der bis in die Gegenwart reichenden dritten Phase bzw. Generation, welche die Autorin mit der Kopftuchaffäre von 1989 einsetzen sieht, stehen Konfliktfelder und Gruppierungen der Nachkommen der muslimischen Immigranten im Zentrum, die das Verhältnis von Islam und Öffentlichkeit definieren. Dabei unterscheidet sie zwei Typen innerislamischer Selbstdefinition und Einschreibung in das gesellschaftliche System: einen traditionalistisch-fundamentalistischen und einen Islam und gesellschaftliche Partizipation verschränkenden Typus.

Dass man sich in einigen Beiträgen eine etwas ausführlichere oder weitergehende Tiefenanalyse hätte wünschen können, mindert nicht das sehr gelungene Gesamtresultat einer vergleichenden und transnationalen Religionsgeschichte, welche den Blick auf einzelne Religionsgemeinschaften und deren Verhältnis zu einander im öffentlichen Raum vereint – ein Projekt, welches im Unterschied zu Deutschland und Frankreich für den innerschweizerischen Raum zwischen deutsch-, französisch- und italienischsprachiger Schweiz noch zu leisten wäre und mit Sicherheit gerade im interdisziplinären Zugang weiterführende Ergebnisse für die neuste Religionsgeschichte hervorbringen könnte.

Zitierweise:
Franziska Metzger: Rezension zu Bernd Schröder/Wolfgang Kraus (Hg.), Religion im öffentlichen Raum / La Religion dans l’espace public. Deutsche und französische Perspektiven / perspectives allemandes et françaises (=Frankreich-Forum. Jahrbuch des Frankreichzentrums der Universität des Saarlandes, 8 (2008)), Bielefeld, Verlag Transcript, 2009. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 103, 2009, S. 331-333.

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